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Troposphäre:
Navigation
Eine
Seefahrt zu den Zeichnungen von Linda Pense
von Niklas Hoffmann-Walbeck
Zeichnungen,
wie unmögliche Seekarten: pulsierende Signale, Kreise, die sich
selbst zu zeichnen scheinen, Schraffuren, die wie unbemerkt in
Flächen übergehen, Hintergründe, die sich in den Vordergrund
schieben, Grenzen, die geschlossen und wieder durchbrochen werden,
Punkte, die aus dem Dunkel blitzen, sich zu Linien dehnen und wieder
verschwinden.
Die polynesischen Seefahrer orientieren sich an Sternen und
Sternbildern, um auf ihren Reisen Kurs zu halten. In den Weiten des
pazifischen Ozeans helfen die Sterne aber nur bedingt. Für weite
Reisen sind die Sternenrouten zu ungenau, um unbekanntes Land zu
entdecken, sind sie nutzlos.
Auf
hoher See bringen Stürme und starke Winde die Wasseroberfläche in
Bewegung, die sich als chaotische, “aufgewühlte” See zeigt. Mit der
Zeit überlagern sich die ungeordneten Wellen und werden zu jener
gleichmäßigen Dünung, die die Meeresoberfläche auch bei Windstille
noch strukturiert. Mit der Kraft des verursachenden Windes wachsen
auch Höhe und Reichweite der Dünungswellen.
Die
von den Winterstürmen im pazifischen Ozean verursachte Dünung kann
Kreise ziehen mit Radien von tausenden Kilometern. Wenn die Wellen
auf eine Insel treffen, brechen sich an ihrer Küste oder den
vorgelagerten Riffen als Brandung. Hinter der Insel entsteht dadurch
ein Dünungsschatten, in dem das Meer relativ unbewegt ist. An den
Seiten der Insel, wo die Wellen nicht gebrochen, aber durch den
Widerstand des Meeresbodens verlangsamt und abgelenkt werden, ändert
die Dünung sanft ihre Richtung. Die ursprünglich weitgehend
geradlinig und parallel verlaufenden Wellen krümmen sich so zu einem
stumpfen Winkel und bewegen sich am Dünungsschatten entlang
aufeinander zu, bis sie sich zu überkreuzen beginnen.
In
der Brandung verausgaben die brechenden Wellen den größten Teil
ihrer Energie, ein kleinerer Teil jedoch bildet Refraktionswellen,
die entgegengesetzt zur ursprünglichen Dünung wieder ins offene Meer
wandern. All diese Überlagerungen, Verschiebungen und Refraktionen
verändern das Dünungsmuster des Meeres bis weit hinter dem Horizont.
In gewisser Weise zeichnen sie ein riesiges, sich stetig wandelndes
und doch charakteristisches Portrait der Insel in den Ozean.
Die
große Kunst der polynesischen Seefahrt besteht darin, diese
Portraits zu entziffern und damit das offene Meer in eine Landschaft
voller Wegweiser zu verwandeln. Es ist allerdings eine Kunst, die
doppelt unsichtbar ist: denn nicht immer sind die Dünungsmuster mit
dem Auge erkennbar. Die konkrete Meeresoberfläche wird von lokalen
Winden, unsortierten Wellen und wechselnden Lichtverhältnissen
verwirrt. Navigiert wird daher bisweilen mit geschlossenen Augen
oder eingeschlossen in den Kajüten der großen Auslegerkanus. Die
Wellenmuster werden in Dunkelheit anhand der Rhythmen gelesen, die
sie über das Schiff an den Körper des Navigators weiterreichen.
Trotz
seiner geradezu fantastischen Abstraktion, lässt sich das Wissen der
polynesischen Navigatoren kaum aufschreiben, oder festhalten.
Kartographie ist zwecklos, da sie die Wege der Stürme und Wellen und
ihre Wechselwirkungen mit den Inseln, Untiefen und Strömungen nicht
abzubilden vermag.
Während
die europäischen Navigatoren ununterbrochen Atlanten drucken und
Logbucheinträge verfassen, wie um die Unverrückbarkeit des
Territoriums zu beschwören,verzichtet man im Pazifik weitgehend
aufderlei Notationen und konstruiert nur selten fragile Geflechte
aus Ästen und Muscheln, die Dünungsrichtungen und Inseln
symbolisieren. Diese “Stabkarten“ sind weniger Informationsträger
als Gedächtnisstützen, eher Sedimentablagerungen des Wissens.
Als
die ersten europäischen Seefahrer im 16. Jahrhundert Südamerika
umrunden und Richtung Westen über das ihnen unbekannte Meer der
Polynesier segeln, ist es, als ob sie sich durch einen fremden
Planeten bewegen. So weit ist der pazifische Ozean, dass den
Erinnerungen an das feste Land bald misstraut wird. Erst nach
etlichen Tagen und Längengraden tauchen winzige, flache Streifen
Land auf und, verschwinden rasch wieder hinter dem Horizont. Im
Abendlicht scheint manchmal in weiter Ferne eine Felsinsel
aufblitzen, aber schon am nächsten Morgen ist sie wie weggewischt.
Wie
Sandkörner durch ein Kaleidoskop, dieses an ein Fernrohr erinnernde
Spielzeug, bei dem durch mehrfache Spiegelung von bunten
Glassteinchen wechselnde geometrische Bilder und Muster erscheinen,
bewegen sich die europäischen Schiffe durch jene unheimliche Welt,
die so anders ist als das eingehegte Mittelmeer, auf dem das Segeln
einst gelernt wurde. Es dauert Jahrzehnte, bis man sich auch nur ein
ungefähres Bild von der Topographie dieses Ozeaniens machen kann.
Unter
den vielen Rätseln, die diese ozeanische Welt aufgibt, gibt es
dieses eine, dessen Lösung so unmöglich erscheint, dass sie zunächst
kaum wirklich versucht wird: wie kann es sein, dass auf all den
winzigen Inseln und Atollen, die bisweilen durch tausende Meilen
offenen Meeres voneinander getrennt sind, bereits Menschen wohnen?
Wie sind sie dorthin gekommen?
Den
klapprigen Stabkarten, die zumindest einen Schlüssel zur Lösung des
Rätsels liefern können, begegnen die europäischen Seefahrer mit
Unverständnis. Zu tief sitzt der Glauben, dass komplexes Wissen nur
dort zu finden ist, wo es auch aufwändig repräsentiert wird. Dass
das Wissen der polynesischen Seefahrer sich genau genommen nur im
Körper der Seefahrer selbst festhalten lässt, hat die tragische
Folge, dass es heute nur noch bruchstückhaft vorhanden ist, und die
interessante Folge, dass es keine ästhetische Form etabliert hat.
In Linda Penses Zeichnungen jedoch lässt sich erahnen, was es
bedeuten mag, sich die Welt nicht über das Land, sondern durch das
Meer vertraut zu machen.
~
A
voyage to the drawings by Linda Pense
Drawings
like impossible nautical charts: pulsating signals, circles that
seem to draw themselves, hatching that almost unnoticed merges
into surface backgrounds that come to the fore, borders that are
closed and broken again, points that emerge from the flashing
dark, stretching into lines and disappearing again.
The
Polynesian navigators use stars and constellations as a guide to
stay on course on their travels. In the vast expanse of the
Pacific Ocean, however, the stars are of only limited help. The
star routes are too imprecise for long journeys; they are useless
to discover unknown lands.
On
the high seas, storms and strong winds set the water surface in
motion, which appears as a chaotic, “churned” sea. Over time, the
disordered waves overlap and become that uniform swell that
structures the sea surface even when there is no wind. With the
force of the causative wind, the height and range of the swell
waves also increase.
The
swell caused by the winter storms in the Pacific Ocean can draw
circles with radii of thousands of kilometers. When the waves
hit an island, they break as surf on its coast or the offshore
reefs. This creates a swell shadow behind the island in which
the sea is relatively motionless. On the sides of the island,
where the waves are not broken, but are slowed and deflected by
the drag of the seabed, the swell changes direction gently. The
waves, which were originally largely straight and parallel,
curve to form an obtuse angle and move towards each other along
the shadow of the swell until they begin to cross each other.
In the surf, the breaking waves spend most of their energy, but
a smaller part forms refraction waves, which migrate back into
the open sea in the opposite direction to the original swell.
All of these overlays, shifts and refractions change the swell
pattern of the sea far beyond the horizon. In a way, they paint
a huge, ever-changing, yet characteristic portrait of the island
in the ocean.
The great art of Polynesian seafaring is to decipher these
portraits and thus transform the open sea into a landscape full
of signposts. However, it is an art that is doubly invisible:
because the swell patterns are not always visible to the eye.
The concrete surface of the sea is confused by local winds,
unsorted waves and changing lighting conditions. Navigating is
therefore sometimes done with eyes closed or locked in the
cabins of the large outrigger canoes. The wave patterns are read
in the dark on the basis of the rhythms that they pass on to the
navigator's body via the ship.
Despite its almost fantastic abstraction, the knowledge of the
Polynesian navigators can hardly be written down or recorded.
Cartography is useless because it is unable to depict the paths
of storms and waves and their interactions with islands,
shallows and currents.
While the European navigators continuously print atlases and
write logbook entries, as if to conjure up the immovability of
the territory, in the Pacific navigators largely dispense with
such notations and only rarely construct fragile networks of
branches and shells that symbolize swell directions and islands.
These "stick cards" are less information carriers than memory
aids, sediment deposits of knowledge.
When the first European navigators circumnavigated South America
in the 16th century and sailed west across the unfamiliar
Polynesian sea, it was as if they were moving through a strange
planet. So far is the Pacific Ocean that memories of the land
will soon be distrusted. Only after several days and degrees of
longitude do tiny, flat strips of land appear and quickly
disappear behind the horizon. In the evening light a rocky
island sometimes seems to flash in the distance, but the next
morning it is as if wiped away.
Like grains of sand through a kaleidoscope, this toy reminiscent
of a telescope, in which changing geometrical images and
patterns appear through multiple reflections of colored glass
stones, the European ships move through this eerie world, which
is so different from the enclosed Mediterranean on which the
Sailing was once learned. It takes decades before one can even
get a rough idea of the topography of this Oceania.
Among the many puzzles that this oceanic world poses, there is
this one, the solution of which seems so impossible that it is
hardly really even attempted: how can it be that people are
living on all the tiny islands and atolls that sometimes are
apart for thousands of miles of open sea? How did they get
there?
European seafarers do not understand the rickety stick cards,
which can provide at least one key to the solution of the
riddle. There is a deep belief that complex knowledge can only
be found where it is represented laboriously. The fact that the
knowledge of the Polynesian seafarers can only be retained in
the body of the seafarer themselves has the tragic consequence
that it is only available in fragments today which leads to the
interesting phenomenon that it did not establish an aesthetic
form.
In Linda Pense’s drawings, however, one can imagine what it
might mean to familiarize oneself with the world not through
land but through the sea.